Wörterbuchangabe grîfan (DWB)
Wörterbuch | Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. |
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Fundstelle | Bd. 9, Sp. 14-46 |
Inhalt | greifen, vb. , capere, palpare. ursprung und form. 1) gemeingerm. wort: got. greipan; ahd. grîfan, mhd. grîfen; alts. grîpan, mnd. gripen; afries. grîpa, ofries. grîpen, wfries. gryppjen; mnl. gripen, nnl. grijpen; ags. grípan, engl. gripe; anord. grípa, norw. schwed. gripa, dän. gribe. aus dem germ. entlehnt frz. gripper packen, griffe klaue, griffer mit klauen ergreifen, lomb. grippâ wegschnappen. aus einer idg. wurzel ghrib-, die wiederkehrt in lit. grëbiù, grpti greifen, dazu das iterat. graibaũ, graibýti umhergreifen; lett. gribēt verlangen, wollen, griba wille. 2) neben dem starken vb. besaszen mehrere germ. dialecte ein abgeleitetes schwaches, ahd. greifôn, ags. grápian, anord. greipa. dem sinne nach waren beide verba ursprünglich anscheinend in der weise geschieden, dasz das starke capere, fassen, ergreifen, das schwache palpare, tasten, fühlen bedeutete. das ags. zeigt den unterschied noch intact, anord. greipa die hände nach etwas ausstrecken, sich mit etwas befassen, hat schon die bedeutung des starken vbs. angenommen, dieselbe bedeutungsübertragung, die sich im ahd. vollzieht. in der regel zeigt ahd. greifôn zwar noch den ursprünglichen sinn; texte und glossen brauchen es für palpare, manu tentare, temptare (Graff 4, 318); 'ih bín iz', quad er, 'uuizît tház, ther blínt hiar bétolônti saz, ih íó mit stábu nôti giang uueges gréifônti zi mánnolîches uuenti Otfrid 3, 20, 38; gisehet mino henti inti fuozi, thaz ich selbo bin, greifot inti gisehet Tat. 230, 5. aber fälle wie greiphontem prensantem und die composita kihantcreifon violasse, ergreifota si iro bruste u. a. (Graff a. a. o.) lassen eine vermengung mit grîfan erkennen. andererseits greift auch grîfan in die bedeutungssphäre von greifôn über: Notker gebraucht regelmäszig grîfen für tasten, fühlen 1, 337, 7. 339, 27. 359, 17. 436, 2. 454, 18 u. ö. der bedeutungsvermengung tritt zuweilen eine formale zur seite: ich gegrîffon dih (reprehendam) Williram 131, 1. die ausgleichsbewegung setzt sich im mhd. fort, wesentlich in der weise, dasz greifen seine bedeutung an grîfen abgibt; man vergleiche: sus gieng er allez enbor und greifende mit henden an mûren unde an wenden, biz er zir beider bette kam Tristan 13595; swer birget sô diu ougen sîn, .. der muoz grîfende gân Barlaam 136, 37; wan unz dar so gangen wir als die blinden schlichen und greifen umb uns H. Seuse deutsche schr. 387, 12 Bihlmeyer; aber: gangen wir also die blinden slichen und griffen umb uns 468, 16. greifen wird je später, je seltener (mhd. wb. 1, 572a; Lexer 1, 1077). der durch die diphthongierung von î hervorgerufene zusammenfall von grîfen und greifen in den präsensformen beschleunigte den untergang des schwachen vbs., und mit dem 14. jh. ist der aufsaugungsprozesz im wesentlichen beendet, wenigstens für die sprache der litteratur. in einzelnen dialecten hat sich die schwache form aber noch lange gehalten; noch Schuppius sagt: der artzt greiffete nach des krancken puls schr. 769 (also in der urspr. bedeutung 'fühlen'), vielleicht nach dem muster einer nd. form (auch das fries. kennt neben gewöhnlichem griip, griep ein prät. grypte Winkler 477a); noch ende des 18. jhs. weist H. Braun das schwache prät. zurück: ich griff (nicht griffe, noch minder greiffete) wb. 126b. auch alem.: sy habend hend und könnend nit greyffen (manus habent et non palpabunt) Zürcher bibel ps. 113 B (v. 7); noch in der modernen ma. greifen vom betasten der hühner, also ebenfalls mit bewahrung des ursprünglichen sinnes Staub-Tobler 2, 708; in derselben bedeutung häufiger grīfen ib. 713; auch Schöpf kennt neben dem prät. griff' noch greiffet' tirol. id. 211. den ersatz des alten greifôn übernahm z. th. tasten, das um 1200 aufgenommen wurde, zu einer zeit also, als greifen schon stark zurückgedrängt war. 3) im nhd. findet sich der präsensvocal î schwäb. noch ende des 15. jhs.: gryffen Stainhöwel de clar. mul. 335 Drescher; alem. herrscht i in den drucken des 16. jhs. noch vor, z. b. bei Nicl. Manuel 46, 360; 143, 242; 184, 1411 Bächtold; in der ewigen wiszheit betbüchlin (1518) 25a. 142a, bei Judas Nazarei 31, 37; 34, 6; 41, 35 neudr.; auch noch bei Murner narrenbeschw. 5, 119; 215, 80 Gödeke; bei Eb. v. Günzburg erscheinen beide formen: gryffen 1, 113; 2, 122, greyffen aber auffälliger weise fast immer in der bedeutung begreifen, erkennen: ir greiffen und befinden, das 1, 52 neudr.; so man yetz greyfft, wie 1, 204, ähnlich 3, 78; da die bedeutung begreifen an tasten anzuknüpfen ist, könnte hier statt diphthongierter formen das alte greifôn vorliegen; doch vgl.: so greyffent kecklich yn die klöster zins 3, 31. seit 1600 herrscht ei, z. b. Stumpf Schwytzerchron. 312b u. ö. md. bis ins 16. jh. griffen chron. d. Wigand Gerstenberg 80 Diemar; Alsfelder passionsspiel v. 7802 Grein. sehr auffällig ist der alte vocal bei Harsdörffer: ich will diesem velleisen meisterlich den puls grieffen frauenz. gesprechsp. 2, 327; bevor ich .. ihm den puls griffen lasse 5, 86 (gewöhnlich greiffen 2, 288 u. ö.), anscheinend also an diese redensart geknüpft. hie und da erscheint statt i im präs. ie, besonders alem.: grieffen Wickram 2, 11 Bolte-Scheel; der ew. wiszheit betbüchlin (1518) 35a; auch md.: grieffen Diefenbach 430c. 4) der vocal des sing. prät. steht in wechselwirkung mit dem des präs., insofern die dialecte, die das î des präs. am festesten bewahren, auch das ei des prät. am längsten halten, in der regel sogar länger als den vocal des präs. alem. steht ei bis ins 17. jh. hinein fest, z. b. N. Manuel 221, 14 Bächtold; Wetzel söhne Giaffers 21 Fischer-Bolte; regelmäszig bei Stumpf Schwytzerchron. 339b. 369a. 427b; die Straszburger drucke des 16. jhs. haben greiff: Pauli schimpf u. ernst 220 Österley; Arigo decam. 69, 36. 275, 21 Keller; im 17. jh. griff Paracelsus opera 2, 258b; auch rheinfr. im 16. jh. ursprünglich noch greiff E. Alberus wider Jörg Witzeln mammelucken G 3a; Scheit frölich heimfart B 2b; Amadis 290 Keller; daneben griff Scheit Grob. 2258. 4818; fröl. heimf. K 2b (die herrschende form); Amadis 372 Keller; buch d. liebe 98a u. ö.; herrschend bei Fischart flöhatz 169 neudr.; Eulenspiegel 1306 Hauffen. am längsten, bis gegen ende des 17. jhs., hält sich ei im ostmd.: Luther 301, 166; 32, 272 u. ö. (auch griff Diez 2, 162b); Lindener katzipori 74 Lichtenstein; Eyering proverbia 2, 493; Rachel sat. ged. 90. 96 neudr.; Scriver seelen-schatz 1, 219; aber griff Chemnitz schwed. krieg 2, 665; schwäb. dagegen steht seit dem 16. jh. griff fest: V. Warbeck Magelone 41, 14 Bolte; Schaidenreiszer Odyssea 39a; Spreng Ilias 72a. 81a. 83b u. ö. bair. erscheint i im prät. schon früh im 15. jh.: gryff städtechron. 2, 38 (a. 1421); auch in Nürnberger drucken herrscht griff: Maximilian Teuerdank 39, 19 Gödeke; H. Sachs 3, 486, 25; selten greiff Val. Schumann nachtbüchl. 212 Bolte; Forster frische teutsche liedlein 121 neudr. (aber die 2. ausg. [1552] hat gryff, die 3. [1563] grieff). 5) für das i im prät. und part. prät. erscheint vom 16. bis ins 18. jh. auch ie, namentlich im md., und zwar besonders ostmd.: grieffen N. Herman sontags evangelia 154 Wolkan; grieff Rollenhagen froschmeuseler (1595) D Ib; Logau sinnged. 95 Eitner; Weise drei ärgsten erznarren 76 neudr.; grief Lohenstein Armin. (1689f.) 1, 12a; grieffen 2, 337a; gegrieffen 2, 279b; grieff, griffen, gegriffen Steinbach 1, 639; auch westmd.: grieffen Kirchhof wendunm. 2, 342 Österley; gegrieffen 2, 550; grieffe Moscherosch gesichte (1650) 5; nicht so häufig, aber um so länger obd.: grief österr. weisth. 6, 149, 37; S. v. Birken forts. d. Pegnitz-schäferey (1645) 53; grieffe Grimmelshausen 4, 531, 6 Keller; gegrieffen disc. d. mahlern 2, 163; griefen M. J. Schmidt gesch. d. Deutschen 3, 233; grief Schubart briefe 2, 244 Strausz. 6) gerundete formen erscheinen im schwäb. und bair.: greufft Schiltberger reisebuch 108, 3 Langmantel; inf. greüfen Tauler sermones (1508) A IIIb; häufig bei H. Sachs: (er) greufft 8, 151, 15; 499, 37; imper. greüff 11, 314, 18; greuffet 22, 204, 3; part. grüffen österr. weisth. 6, 200, 16. vereinzelt und offenbar unter obd. einflusz auch bei Luther: greufft 9, 557, 25; 560, 5 Weim. 7) das part. prät. verliert durch eine art ekthlipsis gelegentlich das präfix ge-; namentlich obd., bis ins 17. jh.: griffen städtechron. 1, 142, 19 (Nürnberg, 1388); 23, 316, 9 (Augsburg, ca. 1534); altd. passionsspiele aus Tirol 423 Wackernell; Eb. v. Günzburg 3, 58 neudr.; Agricola 750 teutscher sprichw. (1534) L Ia; dieweil du hast gesehen mich und griffen H. Sachs 6, 349 Keller; Joh. Nas antipap. eins u. hundert 2, B 8a; Mathesius Sarepta (1571) 10a; getast, griffen Paracelsus opera 1, 325; vgl. 2, 480; grüffen österr. weisth. 6, 200, 16; nur selten md.: gefallen und griffen Luther 18, 19 Weim. (meist gegriffen 16, 20, 23; 28, 342, 2. 20 u. ö.); Fischart flöhatz 30, 1005 neudr. (öfter gegriffen geschichtklitt. 87 neudr.; philosoph. ehzuchtbüchlin 191, 22 Hauffen). 8) sing. prät. zuweilen mit epithet. e: greiffe Arigo decam. 31, 18 Keller; griffe Tabeus Mäynhincklers sack (1612) B 1a; grieffe Moscherosch gesichte (1650) 5; griffe S. v. Birken verm. Donau-strand (1684) 122; Hahn einl. z. teutschen staats-hist. 2, 47. 9) in nhd. zeit herrscht die schreibung mit ff auch nach langem vocal bis in den anfang des 18. jhs.; doch erscheint seit alters daneben auch f, besonders im bair. und angrenzenden gebieten nicht ganz selten: imper. greift cod. Teplensis 1, 120 Huttler; (er) greifet Nürnberger polizeiordn. 35 Baader; greifen städtechron. 5, 317, 3 (Augsburg, ca. 1468); österr. weisth. 6, 27, 17; 428, 38 u. ö.; md. weit spärlicher: greifst Fischart podagr. trostb. 43, 11 Hauffen; greifen A. U. v. Braunschweig Oct. 1, 94; greift exempl. priester (1690) 153; seit der 2. hälfte des 17. jhs. empfehlen die theoretiker greifen: Bellin hd. rechtschreibung a 7b; Stieler stammbaum (1691) 698; aber erst in der zeit von 1720—50 setzt sich f durch: greift Weichmann poesie d. Niedersachsen 2, 95; greifen Gottsched vernünft. tadl. 2, 154; (er) greifet Heppe aufrichtiger lehrprinz 34; greifen 45; Gottsched ged. (1751) 14; imper. greif Dusch verm. werke 560; doch hält sich greiffen darüber hinaus noch ziemlich lange: greiffen Döbel jäger practica (1754) 1, 96; Dusch verm. werke 470; Lessing 17, 420; er greifft Schiller 2, 142; ich .. greiffe Göthe 38, 282 Weim.; greiffen Schubart leben u. gesinn. 2, 9; Stelzhamer ausg. dicht. 2, 122 Rosegger; noch ende des 18. jhs. schreibt Angerstein wenigstens für den imper. greiff doppel-f vor, anweis. 170. wohl nicht ohne zusammenhang mit dieser orthographischen bewegung ist eine andere parallel laufende, die auch im sing. prät. ff durch f ersetzt; im 17. jh. spärlich: grif Zesen erhöhte majestät (1661) 153; Butschky Pathmos (1677) 407; hauptsächlich in der 2. hälfte des 18. jhs.: grif Schönaich Heinrich d. vogler (1757) 43; Kästner verm. schr. 2, 137; Kretschmann 2, 97; Herder 5, 63; 12, 176; Arnim trösteinsamkeit 80 Pfaff. bedeutung. die vorgeschichte des mhd. grîfen läszt erwarten, dasz bei dem verbum zwei bedeutungslinien getrennt werden müssen, die sich zwar berühren, aber begrifflich klar unterschieden sind. |
Letzte Änderung | am 05.02.2018 durch V.S. |
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